In diesem Jahr haben wir den Filmpreis „Leipziger Ring“ an den Dokumentarfilm „Moria Six“ von Jennifer Mallmann im Rahmen der DOK-Filmwochen übergeben. Zur Begründung verwies die Jury am Sonntag, dem 3. November 2024, in Leipzig darauf, dass der Film „beeindruckende Bilder für die Leere und Unfassbarkeit der Situation in Moria nach dem Brand im Flüchtlingscamp“ zeige.
Prof. Dr. Rainer Vor, Stiftungsvorsitzender, erklärte zur Eröffnung das Anliegen der Stiftung: Der Preis solle an die vielen Menschen erinnern, die 1989 in Leipzig und in zahlreichen anderen Orten der DDR friedlich für demokratische Reformen demonstriert und dabei ihr Leben, ihre Gesundheit und ihre Freiheit aufs Spiel gesetzt haben. Sie haben gezeigt, dass gesellschaftliche Systeme mit Zivilcourage gewaltfrei veränderbar sind. Vorstandsmitglied Regine Schild spannte mit ihrer Erläuterung der Preisstatuette den Bogen zum heutigem demokratischen Engagement und der filmischen Auseinandersetzung mit den Themen Freiheit, Menschenrechte, Demokratie. Carsten Möller, künstlerischer Mitarbeiter für Videokunst an der Hochschule für Grafik und Buchkunst (HGB), stellte anschließend die acht nominierten Filme vor. Und der Festivaldirektor des DOK Leipzig Christoph Terchete betonte die Relevanz der Kooperation zwischen der Stiftung und DOK zur Demokratiestärkung.
Wie die Jury, bestehend aus Matthias Hoch, Hannah Klitzke und Elske Rosenfeld, in ihrer Begründung weiter betonte, seien in dem Film „Symbole und Aufnahmen einer durchtechnisierten Entmenschlichung“ zu sehen, „die medial immer weniger Aufmerksamkeit erhielten“. Der Film, der u. a. Aufnahmen von Pushbacks zeigt, rufe in seiner Dringlichkeit zum Handeln auf. Dies unterstreicht auch die Filmkritikerin Luc-Carolin Ziemann: Nach dem verheerenden Feuer im Camp Moria auf der griechischen Insel Lesbos im September 2020, sei es „gespenstisch still“ geworden. „Weder die menschenrechtswidrigen Bedingungen in den weiteren Lagern an den Außengrenzen Europas noch die zahllosen Pushbacks im Mittelmeer schienen die Allgemeinheit näher zu beschäftigen.“
Germany 2024 | Jennifer Mallmann | 82 min
„Nachdem ein Feuer das Camp Moria im September 2020 komplett vernichtet hatte, wurde es gespenstisch still. Nicht nur vor Ort, sondern auch im öffentlichen Diskurs. Weder die menschenrechtswidrigen Bedingungen in den weiteren Lagern an den Außengrenzen Europas noch die zahllosen Pushbacks im Mittelmeer schienen die Allgemeinheit näher zu beschäftigen. Auch die Verhaftung der sechs Jugendlichen, die man der Brandstiftung bezichtigte, blieb ohne weithin hörbares Echo – obwohl schon ein zweiter Blick auf die Umstände der Ermittlungen und den folgenden Strafprozess das Vorgehen der griechischen Justiz als fragwürdig offenbarte. Ganz zu schweigen von der zugrunde liegenden Flüchtlingspolitik der Europäischen Union.
Jennifer Mallmann wagt mit ihrem Film diesen zweiten Blick. Im Zentrum steht ihr Briefwechsel mit Hassan, einem der verurteilten Jugendlichen, der ihr aus dem Gefängnis von seinem Alltag, seinen Wünschen und Ängsten berichtet. Ruhige, exakt kadrierte Bilder dokumentieren „Normalität“ an den Rändern der Festung Europa. Sie zeigen, wie strategische Abschottung und die damit einhergehende strukturelle Ausgrenzung funktionieren. Wer wissen will, wie sich unsere Staatengemeinschaft ihre Zukunft vorstellt, muss nur die neu errichteten, futuristischen Hochsicherheitslager betrachten. Dort werden die Ankommenden behandelt wie Menschen, die schwere Verbrechen begangen haben.“
Eindrücklich beschrieb die Regisseurin Jennifer Mallmann nach der Filmvorführung die schwierigen Bedingungen während des Filmdrehs auf der Insel Lesbos, erzählte von Drohungen seitens der griechischen Behörden, aber auch von der Angst vor den patrouillierenden Vans, die in Eigenjustiz über die Insel streifen und Flüchtlinge am Zugang auf die Insel hindern oder gleich selbst die Pushbacks umsetzen. Außerdem habe sie immer wieder von anderen Filmteams gehört, deren Technik mutmaßlich zerstört wurde. Ihr selbst seien „nur“ die Dreharbeiten während des Prozesses gegen drei der sechs Jugendlichen trotz Drehgenehmigung verweigert worden.
Mallmann verdeutlichte zugleich die Absurdität der Verurteilung auf Grundlage einer einzigen Zeugenaussage, die sich zwischen Falschaussage und mangelnder Beweislage bewegte und von der Hoffnungslosigkeit der nach dem Brand zu langen Haftstrafen verurteilten minderjährigen Jugendlichen. Vor allem durch lange Bearbeitungszeiten im griechischen Rechtssystem, der zunehmenden Kriminalisierung an den europäischen Außengrenzen und der Überforderung der wenigen Pro-Bono-Anwält*innen vor Ort werde die Situation für Geflüchtete immer schwieriger.
Anwesende drückten im Filmgespräch ihre Betroffenheit darüber aus, wie ähnlich sich Gefängnis und die neuen Flüchtlingscamps in Griechenland seien. Lange leere, weiße Gänge, kahle Räume und mehrere verschlossene Gittertüren zwischen den unterschiedlichen Abteilungen trennen die verschiedenen Nationalitäten. Selbst Kinder müssen die Scananlagen beim Betreten oder Verlassen der Anlage passieren, KI-gesteuerte Kameras überwachen Insassen und scannen ihren Emotionsstatus, um die tägliche Ordnung zu gewährleisten. Die im Film gezeigte Szenerie ließ aufgrund ihrer Entmenschlichung erstarren und war nur durch den langsamen Rhythmus der gut gewählten Bilder erträglich.
Jennifer Mallmann betonte, sie wünsche sich mit dem Film eine Sichtbarkeit, die einem globalen Wegschauen entgegenstehe. Dies sei vor allem mit Blick auf die Entwicklung an den europäischen Außengrenzen in den nächsten Jahren besonders wichtig.
Wir vergeben den Filmpreis „Leipziger Ring“ in diesem Jahr zum 15. Mal und wollen damit einen künstlerischen Dokumentarfilm würdigen, der bürgerschaftliches Engagement für Demokratie und Menschenrechte beispielhaft aufzeigt oder der unter großem persönlichem Einsatz und Mut des Filmemachers oder der Filmemacherin gegen Widerstände und Einschränkungen der Presse- und Meinungsfreiheit entstanden ist. Jennifer Mallmann hat das mehr als eindrücklich bewiesen.
Bedanken möchten wir uns noch einmal herzlich bei allen Beteiligten, allen voran den drei Juroren Matthias Hoch, Hannah Klitzke und Elske Rosenfeld, Carsten Möller, der HGB Galerie und Christoph Terhechte.
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