Pressemitteilung der Stiftung Friedliche Revolution

vom 14. Oktober 2023

DOK Leipzig: Filmpreis "Leipziger Ring" geht erstmals an zwei Filme

Stiftung Friedliche Revolution würdigt "Einhundertvier" und "Where Zebus Speaks French"

Leipzig. Mit dem Filmpreis „Leipziger Ring“, der seit 2010 von der Stiftung Friedliche Revolution im Rahmen des Filmfestivals DOK Leipzig vergeben wird, werden in diesem Jahr erstmals zwei Filme in gleichem Maße geehrt. Die Auszeichnung erhielten am Samstag, 14. Oktober, der Film „Einhundertvier“ von Jonathan Schörnig und „Where Zebus Speaks French“ von Nantenaina Lova. Der Preis ist mit 2.500 Euro dotiert und wird alljährlich beim Internationalen Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm vergeben.

In seinem Film verfolgt Schörnig hautnah die Mission der Crew des Rettungsbootes Eleonore, das im Namen der Dresdner Hilfsorganisation „Lifeline“ bei diesem Einsatz insgesamt 104 Bootsflüchtlinge von einem im Mittelmeer treibenden Schlauchboot rettet. Lovas Film zeigt ein kleines Dorf auf Madagaskar, das sich mit großem zivilgesellschaftlichem Engagement gegen die vermeintlichen Segnungen der von der Zentralregierung betriebenen Investitionen auflehnt.

Beide Filme könnten zwar in ihrer Machart nicht unterschiedlicher sein, hätten aber etwas ganz Entscheidendes gemeinsam, betont die Jury in ihrer Begründung. Diese Gemeinsamkeit bestehe in der „Sehnsucht nach gesellschaftlicher Veränderung und Engagement für eine humane Welt“. So zeige Schörnig in seinem Film in Echtzeit eine Seenotrettung. Damit führe er zugleich die tägliche Not im Mittelmeer dramatisch vor Augen. Lovas Film sei dagegen eine „hintergründig sensible Erzählung über zivilgesellschaftliches Aufbegehren gegen die Enteignung von Land und Kultur in Madagaskar“.

Der Filmpreis „Leipziger Ring“ wurde in diesem Jahr zum zwölften Mal vergeben. Die Stiftung würdigt mit ihm einen künstlerischen Dokumentarfilm, der bürgerschaftliches Engagement für Demokratie und Menschenrechte beispielhaft aufzeigt oder der unter großem persönlichem Einsatz und Mut des Filmemachers oder der Filmemacherin gegen Widerstände und Einschränkungen der Presse- und Meinungsfreiheit entstanden ist.

Für den Filmpreis der Stiftung Friedliche Revolution waren in diesem Jahr sieben Filme nominiert. Der Preis soll an die vielen Menschen erinnern, die 1989 in Leipzig und in zahlreichen anderen Orten der DDR friedlich für demokratische Reformen demonstriert und dabei ihr Leben, ihre Gesundheit und ihre Freiheit aufs Spiel gesetzt haben. Sie haben damit gezeigt, dass gesellschaftliche Systeme mit Zivilcourage gewaltfrei veränderbar sind. (Siehe die Liste der Nominierungen im Anhang.)

Nominierungen für den „Leipziger Ring“ 2023

Einhundertvier von Jonathan Schörnig | Deutschland 2023 | 93 min.
Die tödlichste Fluchtroute der Welt fordert jedes Jahr Tausende Leben. Allein in der ersten Hälfte 2023 starben fast 2.000 Menschen im Mittelmeer, weil die Grenzpolitik der Europäischen Union systematisch geltende Rechte verletzt. Statt Schiffbrüchigen beizustehen,  praktiziert Frontex illegale Pushbacks, finanziert das gewaltvolle Vorgehen der libyschen Küstenwache und geht massiv gegen private Seenotrettungsmissionen vor, die dort tätig werden, wo die EU versagt. All das ist medial belegt, und dennoch bleibt es für alle, die diese Situation noch nicht selbst erleben mussten, unbegreiflich: Wie kann man Hunderten Menschen in Todesgefahr Hilfe verweigern, die zivilen Helfenden sogar bedrohen und kriminalisieren?!

Photophobia von Ivan Ostrochovsky, Pavol Pekarcik | Slowakei, Tschechische Republik, Ukraine 2023 | 71 min.
Seit Wochen harren der 12-jährige Nikita und seine Familie in einer U-Bahnstation in Charkiw aus. Der Ort verspricht Schutz vor den russischen Angriffen, doch viel zu erleben gibt es hier unten nicht. Das grelle Licht und die provisorisch hergerichteten Waggons erzeugen eine surreale bis triste Atmosphäre, Haustiere streunen durch die Gänge, ein in die Jahre gekommener Musiker stimmt Lieder auf seiner Gitarre an. Ivan Ostrochovský und Pavol Pekarčík verdichten die ersten Kriegsmonate in der Ukraine zu einer beklemmenden, aber nicht hoffnungslosen Erzählung, denn die Station ist auch eine Stätte der Begegnung.

The Last Relic von Marianna Kaat | Estland, Norwegen 2022 | 104 min.
In den vorbeifahrenden Bussen und Straßenbahnen schauen die Leute ungläubig aus den Fenstern. Der Gegenschuss zeigt eine Protestmenge. Zwei Dutzend Menschen vielleicht, ein paar mit Schildern, einer schreit: „Putin in den Knast!“ Es ist ein symbolisches Bild vom dürftigen Zustand der russischen Opposition – im Jahr 2017, der Angriffskrieg gegen die Ukraine liegt noch in der Zukunft. Über einen Zeitraum von mehreren Jahren porträtiert „The Last Relic“ Personen aus unterschiedlichen oppositionellen Gruppen. Es fehlt diesen Aktivist*innen an Unterstützung, an Mut jedoch nicht. Einer kommt aus der Haft und hat einen Hungerstreik überlebt. Die anderen müssen jeden Moment selbst mit einer Anklage rechnen.

The Mother of All Lies von Asmae El Moudir | Marokko, Ägypten, Saudi-Arabien, Katar 2023 | 97 min.
Traumata haben Filmschaffende schon oft auf die Idee gebracht, die dokumentarische Erzählung mit visuellen Verfremdungen zu konfrontieren. Asmae El Moudir wählt die Form einer von Puppen bewohnten Miniatur des Stadtviertels von Casablanca, in dem sie aufwuchs. 1981, vor ihrer Geburt, ereignete sich dort ein Massaker. Polizei und Militärs des marokkanischen Königs erschossen hunderte Teilnehmende der sogenannten Brot-Unruhen, die gegen kontinuierlich steigende Lebensmittelpreise protestierten. Die detailgetreuen Kleinnachbauten – El Moudirs Vater, ein Maurer, baute die Häuser in groß aus Stein und Zement! – veranschaulichen diese Ereignisse zwar, sie kennzeichnen aber auch die Distanz zu einer bilderlosen und in Marokko lange verschwiegenen Historie.

Togoland von Jürgen Ellinghaus | Frankreich, Deutschland, Togo 2023 | 96 min.
Auf den Spuren des Hamburger Filmregisseurs Hans Schomburgk, der mit seiner Gefährtin und Darstellerin Meg Gehrts 1913 die deutsche Kolonie Togo von Lomé bis in den Norden bereiste, führt Jürgen Ellinghaus die damals entstandenen Aufnahmen an ihren Drehorten im heutigen Togo vor. Schomburgks affirmative Bilder zeigen Sklav*innenarbeit, Erniedrigung und den Hochmut der Kolonialmacht. Kontrastiert wird das Material durch Gehrts’ verklärende Tagebuchaufzeichnungen und andere Kolonialberichte, die oft von einer entsetzlichen Kälte zeugen. Die Vorführungen des nie zuvor in Togo gezeigten Materials geben ihrem Publikum Anlass für Reflexionen über Traditionen, Klischees, über den „weißen Blick“.

Wer, wenn nicht wir? Der Kampf für Demokratie in Belarus von Juliane Tutein | Deutschland 2023 | 77 min.
2020 formierten sich in Belarus die bis dato größten Proteste gegen die Regierung. Den Demonstrierenden wurde mit Gewalt und Restriktionen begegnet, viele von ihnen erhielten drakonische Haftstrafen. Ein gefährliches Klima, das politischen Aktivismus bereits in der Entstehung zu unterbinden sucht, setzte sich fest. Juliane Tutein filmte und recherchierte für „Wer, wenn nicht wir? Der Kampf für Demokratie in Belarus“ drei Jahre lang in einem Land, das mit seiner vermeintlichen Unabhängigkeit 1991 keinen Elitenwechsel erlebt hat. An der Spitze der mutigen Aufbegehrenden entdeckt sie vor allem Frauen. Dreien von ihnen widmet sie dieses Porträt: Nina Bahinskaja, Mitte siebzig und seit den 1980er Jahren im Kampf für ein offenes Belarus engagiert, Tatsjana „Tanja“ Hatsura-Jaworskaja, Gründerin des Menschenrechtsfilmfestivals „Watch Docs“, und Darja Rubleuskaja, mit 22 die Jüngste, die für das von Friedensnobelpreisträger Ales Bjaljazki gegründete Menschenrechtszentrum „Wjasna“ arbeitet.

Where Zebus Speak Frensch von Nantenaina Lova | Frankreich, Madagaskar, Deutschland, Burkina Faso 2023 | 103 min.
Ob Bauer Ly etwas mit den Chinesen zu tun habe, die sich neuerdings an der Infrastruktur des Dorfes Sitabaomba, unweit der madagassischen Hauptstadt Antananarivo, zu schaffen machen, fragt Regisseur Nantenaina Lova so unverblümt wie verschmitzt. Ly verneint. Dass die verschiedenen Entwicklungsmaßnahmen, häufig eingeleitet von ausländischen Initiativen und befeuert durch korrumpierte Politik, jedoch auch ihn betreffen, wird im Verlauf von „Where Zebus Speak French“ immer klarer. Fokussiert auf Sitabaomba, zeigt Lova über mehrere Jahre hinweg den Versuch der Dorfbevölkerung, ihr Ackerland zu verteidigen. Ihr Kampf erinnert an den von David gegen Goliat, führt jedoch nicht zu Verzagtheit. Denn in Madagaskar wird seit jeher auch eine sehr eigenständige Form des künstlerischen Ausdrucks, insbesondere des sprachlichen, gepflegt, der es im besten Fall vermag, eine innere Unabhängigkeit zu bewahren.

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