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"Gerechtigkeit" - Rede bei Pulse of Europe am 23. April 2017 in Leipzig

Liebe Freundinnen und Freunde Europas,

wie eigentlich konnte es soweit kommen, dass im Jahr 2016, mehr als 70 Jahre nach Ende des zweiten Weltkrieges und nach einer noch nie dagewesenen Periode des ununterbrochenen Friedens in Europa, eines der ältesten Mitglieder der EU den Exit aus der Gemeinschaft beschließt? Was musste geschehen, dass mit Wilders um ein Haar ein erklärter Europagegner an die Macht gekommen wäre, dass Marine Le Penn reelle Chancen hat, heute oder in 2 Wochen neue französische Präsidentin zu werden, um dann den Ausstieg aus der EU nach britischem Vorbild einzuleiten? Wer gibt den Orbans, Kaczynskis, Hofers und Höckes seine Stimme? Woher nur bläst derzeit der alten Dame und Friedensnobelpreisträgerin Europa dieser eisige Wind ins Gesicht?

Gegründet wurde die EU seinerzeit, um den blutigen Kriegen, mit denen sich die heutigen Mitgliedsstaaten Jahrhunderte lang gegenseitig überzogen, endlich ein Ende zu setzen. Der Zusammenschluss der Staaten hat den Menschen in der EU neben Reisefreiheit und Erasmus tatsächlich Frieden gebracht - bis heute - über einen Zeitraum von mittlerweile mehr als 70 Jahren. Ein grandioser Erfolg! Die Menschen in Europa allerdings haben sich so sehr an den Frieden gewöhnt, dass er zur Selbstverständlichkeit wurde. Wirklich wertgeschätzt wird er nur von jenen, die Krieg in Europa noch erlebt haben, doch deren Zahl nimmt naturgemäß stetig ab. Und schon sprechen Psychologen von der wieder aufkeimenden, unterschwelligen Lust am Zündeln, die dem Menschen offensichtlich innewohnt. Dass er aus der Geschichte, wenn nicht selbst betroffen, wenig lernt wird immer deutlicher. Was für ihn zählt, ist der momentane Vorteil, nicht jedoch strategisches Denken.

So lassen sich viele Menschen nicht mehr leiten von der Friedensidee, die Europa im Kern ausmacht. Sie lehnen Europa ab, weil ihnen die Ausdifferenzierung der zahlreichen Einzelkrisen des Kontinents nicht mehr möglich ist, und sie stattdessen dem subjektiven Gefühl nachgeben, Europa behandle sie ungerecht und bleibe unter seinen Möglichkeiten. Tut Europa das?

Als Währungsunion gegründet hat es Europa bis heute nicht geschafft, eine politische Union zu werden. Ein fatales Versäumnis! In einer Familie, in der Geld das Maß aller Dinge ist, in der die Mitglieder nurmehr nach ihrer wirtschaftlichen Kraft beurteilt und behandelt werden, in einer solchen Familie kann nur Neid und Missgunst herrschen, niemals aber das Gefühl der Verbundenheit und Solidarität, auch nicht das Vertrauen auf Gerechtigkeit. Geld und Ökonomie funktionieren bekanntlich auch ohne solides Wertefundament. So ist die Würde eines Mitglieds der Familie schnell verletzt und die emotionale Abkehr von der Gemeinschaft die Folge. Papst Franziskus mahnt daher zu Recht: „In einem Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten muss der Schnellere den Langsameren an der Hand nehmen“.

Für Populisten herrschen insofern ideale Bedingungen. Seit an Seit mit denen, die Europa als starken Wirtschaftsraum und Konkurrenten fürchten und bekämpfen bauen sie Feindbilder auf, ohne die ihre Politik nicht verfängt und befeuern den Nationalismus. Die Putins, Assads und Trumps reiben sich die Hände bei jedem Erfolg der Europagegner und gratulieren als erste, wenn wieder irgendwo in Europa eine Demokratie implodiert oder ein Gleichgesinnter eine Wahl gewinnt. Den Nährboden für Rechtspopulismus und den aufkeimenden Nationalismus indes hat die EU selbst geschaffen: überbordender Bürokratismus, Empathielosigkeit im Umgang mit europäischen Nachbarn und Beitrittskandidaten wie Ukraine und Türkei, mangelnde Transparenz, die gerne mit der Komplexität des europäischen Konstrukts entschuldigt wird, Europapolitiker, die von vielen in erster Linie als Karrieristen denn als konstruktive Europaentwickler wahrgenommen werden, das Fehlen von Möglichkeiten der demokratischen Einflussnahme durch die Bürger und schließlich das Gefühl einiger Staaten, Mitglieder 2. Klasse zu sein.

Europa als zwar reformbedürftiges aber an sich alternativloses Friedens-, Freiheits- und Gerechtigkeitsprojekt zu verstehen, setzt politische Bildung voraus. Sie aber kommt nicht nur in Europa, auch hier in Deutschland deutlich zu kurz. Mag die Notwendigkeit der politischen Bildung in 70 Jahren des Friedens vielleicht nicht als prioritäre Aufgabe des Gemeinwesens verstanden worden sein. Spätestens seit der Zuspitzung der Umbrüche in der Welt in jüngster Zeit ist sie eine prioritäre Aufgabe. Und sie muss einhergehen mit einer Reformierung der europäischen Demokratie. Das Europaparlament und nicht die EU Kommission muss Gesetze einbringen, diskutieren und nach demokratischen Grundsätzen beschließen können. Alle Bürgerinnen und Bürger der EU müssen über die gewählten Abgeordneten Einfluss nehmen können. Denn wer politisch gebildet und wem politische Partizipation möglich ist, wird sich nicht gegen Europa als solches wenden.

Die Gleichheit der politischen, steuerlichen und sozialen Regeln in der Union ist eine weitere wichtige Voraussetzung für eine tragfähige politische Union und damit für sozialen Frieden in Europa. Ein Prozess, der lange dauern, aber, wenn erfolgreich, Europa und insbesondere auch den Euro stabilisieren wird. Und vielleicht eines fernen Tages in die Vereinigten Staaten von Europa mündet, worüber schon Willy Brandt in den 60er Jahren laut nachdachte. Oder in eine Republik Europa, wie sie von der Politologin und Gründerin der Denkfabrik „European Democracy Lab.“ Ulrike Guerot in ihrem Buch „Warum Europa eine Republik werden muss!...“ beschrieben wird.

In einer solchen Republik Europa als politischem Emanzipationsprojekt aller Europäerinnen und Europäer gäbe es keine Regionen zweiter Klasse, weil die Schnelleren die Langsameren an der Hand nehmen würden. Nationalstaaten wären verzichtbar, gleichwohl bliebe die kulturelle Identität der Regionen erhalten. Die Menschen könnten sich auf der Grundlage einer gemeinsamen Verfassung auf eine stabile Demokratie verlassen und sich einbringen. Den Populisten wäre die Handlungsgrundlage entzogen, weil Gerechtigkeit herrschte, auch und insbesondere mit Blick auf die Verteilung des gemeinsam erwirtschafteten Wohlstands. Eine Republik Europa könnte mit diplomatischem Feingefühl auf ihre Nachbarn und mögliche Beitrittskandidaten zugehen und nicht dem Ehrgeiz anhängen, drittgrößter Waffenexporteuer der Welt zu bleiben, weil von ihr eine authentische, weil genetisch verankerte Friedensbotschaft ausginge. In einer Republik Europa würde nicht Deutschland den Takt vorgeben und dafür gehasst werden.

Ob all das so kommen wird ist ungewiss. Es liegt an uns. Wenn wir ein solches oder ein ähnliches Europa wollen sind wir als Bürgerinnen und Bürger Europas und als Souverän gut beraten, uns dafür einzusetzen. Politiker werden weitreichende Veränderungen nicht vorantreiben, denn sie wollen nicht obsolet werden. Und die Gegner Europas sind allesamt äußerst agil und fordern uns heraus. Ihrer wegen stehen wir heute und wohl noch länger hier auf dem Leipziger Marktplatz. Politische Visionen müssen nicht für immer Utopien bleiben. Es lohnt sich, für sie einzutreten. Tut man es nicht, überlässt man das Spielfeld den Destruktiven und hat schon verloren.

Als am 9. Oktober 1989 (nach jüngsten Studien) an die 100.000 Menschen um den Leipziger Ring zogen, mit Kerzen in den Händen für Veränderungen eintraten und schließlich den entscheidenden Impuls für die Friedliche Revolution gaben, stand auch eine Vision am Anfang. Die Vision von Gerechtigkeit und Freiheit. Und sie ist Wirklichkeit geworden. Am Ende erreichten die Menschen sogar mehr, als sie ursprünglich forderten nämlich die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten. Allerdings bedurfte es seinerzeit viel Mutes und der Bereitschaft, Freiheit, Gesundheit oder gar das Leben zu riskieren.

Heute ist es weitaus weniger gefährlich auf die Straße zu gehen und für Europa, für ein reformiertes, noch besseres Europa, vielleicht sogar eine Republik Europa einzutreten. Heute riskiert derjenige, der nicht auf die Straße geht, den Verlust der Freiheit und der Gerechtigkeit. Denn diejenigen, die von antiquiertem Nationalismus getrieben die Abschaffung Europas anstreben, werden Unfreiheit und Ungerechtigkeit schaffen, wenn sie erfolgreich sind. Und dass sie erfolgreich sein können, ist so unwahrscheinlich nicht, wie sich das manch einer wünscht.

Die parteiunabhängige von Bürgerinnen und Bürgern aus Ost und West gegründete Stiftung Friedliche Revolution ist mit ihrem Namen und ihren Leitlinien unter Bezugnahme auf die Friedliche Revolution 1989 der Freiheit, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung verpflichtet. Sie will Plattform für all jene sein, die auf ihre Weise für diese Werte eintreten. Wir schätzen Pulse of Europe mit seiner positiven Botschaft als eine wichtige zivilgesellschaftliche Initiative sehr und kooperieren gerne. Danke dafür, dass Sie uns heute auf Ihre Plattform einladen. In Zeiten der Skepsis gegenüber Eliten hat die Zivilgesellschaft besondere mediale Macht. Sie gerade jetzt zu nutzen und einzusetzen ist legitim, ja geboten.

Insofern ermutige ich Sie alle, nach dem Vorbild derer, die 1989 friedlich das DDR Unrechtsregime überwandten, weiterhin ebenfalls friedlich und mit Leidenschaft für das Friedens-, Freiheits- und Gerechtigkeitsprojekt Europa, aber auch die notwendigen Reformen und, wenn Sie mögen, die Vision einer Republik Europa einzutreten. Sie riskieren nichts. Sie riskieren Europa, wenn Sie es nicht tun. Unseren französischen Freundinnen und Freunden rufe ich zu: wählt heute Europa, bleibt bei uns, wir brauchen Euch!

Danke

Leipzig, 23.04.2017
Gez. Michael Kölsch

Moderator:
Unser heutiger Gastredner ist Michael Kölsch. Er ist Mitgründer, – stifter und Vorstand der Stiftung Friedliche Revolution. Sein Thema: Europa unter dem Blickwinkel der „Gerechtigkeit“.